Hafragilsfoss, Dettifoss, Selfoss
11. Juli 2009
Früh kommen wir schwer aus den Betten. Wir fahren nach Husavik, im Hafen spiegeln sich die Fischerboote auf der stillen See, im Hintergrund leuchten die Schneeflecken der Berge. Wir erkundigen uns nach den Walsafaris und erledigen den Wochenendeinkauf. Es ist fast Mittag, als wir endlich losfahren zum wasserreichsten Wasserfall Europas, zum Dettifoss.
Die Fahrt beginnt mit spektakulären Ausblicken auf gelbe Wiesen, über den dunkelblauen Fjord hinüber zu den blauen, schneebedeckten Bergen. Eine Farbenpracht, die jeder Postkarte Ehre machen würde. Da ahnen wir noch nicht, dass später am Tage alle Farben bis auf ein blasses Blau des Himmels aus unserem Blickfeld verschwinden werden. Noch genießen wir Aussichten auf Berge und Meer, auf Hügel und Felder, auf Lupinen und andere Blumen. Am Rande des Delta des Gletscherflusses Jökulsá á Fjöllum stehen wir auf einem Aussichtpunkt und blicken über das Meer und die weite Ebene.
Auf der anderen Seite dieser Ebene biegen wir zum ersten Mal auf eine nicht geteerte Straße ein. Mit zwischen 40 und 60 km/h rattern wir über die Waschbrettpiste, hinter uns eine lange Staubfahne herziehend. Wir hören jedes lose und jedes feste Teil des Autos, jedes einzeln und alle im Chor. Bei 80 km/h bildet man sich ein, dass es nicht gar so schlimm scheppert. Ungefähr in der Mitte des Weges biegen wir ab zum Hafragilsfoss und stehen überrascht an einem großen Canyon, in dem sich der Gletscherfluss Jökulsá á Fjöllum tief unten sein Bett gräbt. An dieser Stelle stürzt er auf breiter Front eine Stufe hinunter. Die Wassermassen spritzen weit nach oben, fast bis an ihren Ausgangspunkt zurück. In einer Nebenbucht funkelt das Wasser leuchtend türkis. In der Ferne, ein Stück stromaufwärts ahnt man den Wasserdampf des Dettifossen.
Natürlich sind wir am Dettifoss nicht allein. Das Attribut, der größte Wasserfall Europas in der Kategorie Wasserreichtum zu sein, wirkt wie ein Magnet. Warum die Wasserfälle wenige Meter davor und danach weniger Wasser hinabstürzen lassen, bleibt für uns ein Geheimnis der Isländer. Unbestritten beeindruckt der Dettifoss. Schon von weitem sieht man die Gischtfahnen aus dem Canyon aufsteigen und vor den Besuchern davon wehen. Steht man endlich direkt am Wasserfall überrascht seine schmutzige Färbung. Kein klares Wasser, wie wir es von Norwegen her kennen. Grau und trüb schäumt der Fluss, stürzen seine Massen hinab. Blickt man sich um, dann ahnt man, dass dieses Wasser seinen Schmutz wohl nicht nur vom Gletscher mitbringt, sondern auch aus der Nähe hat. Die ganze Landschaft wirkt dunkel und staubig. Lavafelder, Basaltfelsen und Asche.
Einige Kilometer weiter steigert sich die Landschaft ins Farblose. Nur noch schwarz und grau, trostlos bis zum Horizont. Hier ließe sich gut für eine Mondexkursion üben. Zwischen karg und karg können Welten liegen. Mit jedem weiteren Kilometer erfahren wir neue Facetten der Einöde. Hier und dort ein Schimmer ins Grüne, dort ein wenig Ocker oder gar Rot im aufgekratzten Boden, die verschämt schnell wieder dem einheitlichen Schwarz weicht.
Auf der anderen Seite des Canyons fahren wir zurück. Zum ersten Mal auf einer Straße, die nur für Allrad zugelassen ist. Nach wenigen Metern weiß man, ohne Allrad wäre man zum stehenden Verkehrshindernis auf einspurigen Pisten fast ohne Ausweichstellen verdammt. Der Wagen scheppert, man hört jetzt auch die Teile, die bisher vielleicht noch geschwiegen haben, sie stöhnen, quietschen und knarren. Bald sind wir wieder inmitten der Mondlandschaft, schimmernd in allen Nuancen von Schwarz. Hier hätte Micha ruhig seinen Farbfilm vergessen können. (Für nicht in der DDR aufgewachsene Leser: „Micha, du hast den Farbfilm vergessen“ war der populärste Song Nina Hagens aus ihrer DDR-Zeit.)
Noch einmal genießen wir den Dettifoss, dieses Mal von der westlichen Seite aus. 50 km Fahrt für die Sicht von der anderen Seite. Wieder donnern die Wassermassen. Fluss und Gestein sind grau in grau, nur ein Regenbogen, der über den Schluchten des Canyons funkelt, bringt Farbe ins Bild. Nur wenige hundert Meter über Lava und Asche, und wir erreichen den Selfoss, der in zahlreiche einzelne Wasserfälle zerfällt, die sich im Halbrund anordnen.
Auf der Weiterfahrt weicht irgendwann das Schwarz einem olivgrünen, flachen Bewuchs. Später sehen wir sogar lila und gelbe Blumen, die nach den vielen Kilometern der weitgehenden Vegetationslosigkeit wie aus einer anderen Welt wirken und die Üppigkeit des Paradieses verheißen. In der Ferne bleibt immer der Canyon zu ahnen, zu dem wir parallel der Teerstrasse entgegen schaukeln. Abends duschen wir uns den Mondstaub aus den Haaren.
[wpmaps]
Views: 241